Slow Baking beim Brot-Sommelier
2. März 2019 | unterwegs
Brot ist das Grundnahrungsmittel Nummer 1 in Deutschland, über 3.200 verschiedene Brotsorten soll es geben. Brot ist sprichwörtlich in aller Munde – aber kaum einer weiß, wie es in einer Backstube aussieht und wieviel Zeit und Mühe in einem guten Brot steckt – geschweige denn, was ein Brot-Sommelier und Slow Baking ist. Um das herauszufinden, waren wir zu Gast beim Brot-Sommelier Wolfgang Heyderich in der Stader Backstube.
Als wir nachts um 03.00 Uhr in der Stader Backstube eintreffen, sind schon Unmengen an Broten, Croissants und Brötchen gebacken. Nichts für Spätaufsteher, das Bäckerhandwerk… Teigmacher und Altgeselle Gerhard Wöltjen ist schon seit 01.00 Uhr vor Ort. Sein Arbeitstag wird mit Pausen gegen 10.00 oder 11.00 Uhr enden: „Wenn alles fertig ist“, wie er sagt. Wöltjen blickt auf 40 Jahre Backerfahrung zurück und ist gerade damit beschäftigt, die Zutaten für Roggenbrot abzuwiegen. Er zeigt uns das sogenannte „Teigleitsystem“, mit dem er das macht. „Ein Display ist mit der Waage verbunden, genaue Arbeitspläne für die jeweiligen Brot- oder Brötchenteige sind hinterlegt. Das Display zeigt an, welche Zutaten und welche Mengen ich zugeben muss“, erklärt er. „Das entlastet den Bäcker sehr, man kann kaum eine Zutat vergessen.“
48 Stunden zum fertigen Brötchen
In der Backstube treffen wir auf Wolfgang Heyderich und eine Mischung von Tradition und Technik, von Handarbeit und Hightech. Die Back- und Ruhezeiten werden computergesteuert. Es wird nichts dem Zufall überlassen. Die Backstube wurde 2006 als 11. Betrieb mit dem Siegel „Slow Baking“ zertifiziert. Ganz gemäß der „Slow Baking“ Philosophie dürfen hier die Teige bis zu 48 Stunden und zum Teil auch noch länger ruhen und reifen. „Der Teig wird angesetzt, dann elektrisch gesteuert runtergekühlt, damit sich die Aromen optimal entfalten können“, erklärt uns Heyderich. „Dann wird die Temperatur wieder ganz langsam angehoben und erneut gekühlt, das gibt eine schön krosse Kruste – und am nächsten Morgen kann dann gebacken werden. Auf die Teigführung kommt es eben an.“
Teigführung bedeutet – einfach ausgedrückt – wie der Teig hergestellt wird. Und da gibt es Riesen-Unterschiede! Wolfang Heyderich erklärt das so: „Traditionelle Verfahren achten auf natürliche und schonende Praktiken. Der Faktor Zeit spielt eine ganz wesentliche Rolle! Alles, was in Ruhe und unter optimalen Bedingungen heranreifen kann, wird am Ende großartig. Schnelle, zeitoptimierte und an die Technik angepasste Zusatzstoffe, die beispielsweise die Maschinengängigkeit von Teigen sichern sollen, haben bei uns nichts zu suchen. Slow Baking, das langsame Backen, steht bei uns ganz vorn.“
Zeit und „gute Führung“ für den Geschmack, so sollte es sein!
Wie wird man Brot-Sommelier?
Als Wolfang Heyderich Anfang 2018 die Prüfung zum Brot-Sommelier ablegte, gab es gerade mal 44 in ganz Deutschland. Die Zusatzausbildung dauert zehn Monate und ist über dem Meistertitel angesiedelt.
In acht Modulen zu je drei Tagen an der Akademie des deutschen Bäckerhandwerks in Weinheim geht es weniger ums praktische Backen als um Brotkultur und die Geschichte des Brots. Neben Betriebswirtschaftslehre und Marketing/Kommunikation werden in erster Linie die sensorischen Fähigkeiten der Teilnehmer geschult. Auch das Thema Food-Pairing ist ein wichtiges Handlungsfeld. Welches Brot passt zu welcher Speise? Vom Wein kennen wir das, beim Brot ist es mir neu – aber letztlich genauso einleuchtend wie beim Wein.
Geschmack und Geruch zu beschreiben ist generell nicht einfach. Auch das kennen wir vom Wein. Und wenn mir ein Wein angepriesen wird mit den Worten „Ein Aroma und Ausdruck wie der von sonnenbeschienenen Bachkieseln“, dann gerate ich zugegebenermaßen schnell an meine Grenzen. Ein bisschen hatte ich die Befürchtung, auch bei Wolfgang Heyderich könnte es in diese Richtung gehen. Aber nein. Natürlich kann er über Brot philosophieren und er kann Brote beschreiben, bewerten, zuordnen. Aber er tut das gänzlich unaufgeregt und unaufdringlich. Er erzählt keine blumigen und wortreichen Geschichten, sondern geht in seiner ruhigen und sympathischen Art etwas sachlicher, vielleicht etwas norddeutscher an die Beschreibung der verschiedenen Brotsorten heran. Seine Ansätze, bestimmten Speisen das passende Brot zuzuordnen, sind faszinierend!
Um 05.01 Uhr kommt der erste Kunde!
Die Bäckerei und das Café an der Harsefelder Straße in Stade sind an sieben Tagen in der Woche geöffnet, und das unglaubliche 365 Tage im Jahr. Ab 05.00 Uhr morgens reißt der Kundenstrom nicht mehr ab. Draußen vor der Bäckerei wird derweil der Holzofen angeheizt, der jeden Samstag -zusätzlich zu den drei großen Backöfen in der Backstube – in Betrieb ist. Herr über alle Backöfen ist Daniel Nitschke, der routiniert dafür sorgt, dass Brot und Brötchen schön knusprig und braun werden.
Mein Augenmerk fällt auf ein Brot, das beinahe so groß wie ein Wagenrad ist und gerade über den Ladentisch geht. Heyderich erklärt mir: „Das ist unser Sommelierbrot! Der Trend geht dieser Tage zu immer kleineren Broten, obwohl große Brote aromatischer sind und die Krustenbildung einfach besser ist.“ Und das Sommelierbrot ist ein großes Brot, ein sehr großes. Der Kunde bestimmt, wie groß das Stück sein soll, das er kauft.
Das Sommelierbrot wird aus Schweizer Ruchmehl gebacken. Ruchmehl enthält einen größeren Anteil der äußeren Schalenschicht, während herkömmliches Weißmehl überwiegend aus den inneren Teilen der Getreidekörner besteht. Die Riesenlaibe werden vorgebacken, in Folienbeutel verpackt, dadurch dringt Feuchtigkeit zurück ins Brot. Durch diese Unterbrechung des Backvorgangs und die Befeuchtung wird die Kruste noch krosser. „Rund 80% der Aromen sitzen in der Kruste“, so Heyderich. Er spricht gern vom „Aromatresor“. Wer sein Sommelierbrot einmal unter dem Brotmesser hatte, weiß, was er meint.
Berliner – noch richtig von Hand gemacht
In der Stader Backstube ist Handarbeit trotz hochmoderner Technologie allgegenwärtig, beispielsweise bei den Berlinern. 120 Stück backt Konditorgeselle Marco Musall heute Morgen. Die fertigen Teiglinge werden von Hand in das heiße Fett gegeben. Drei Minuten von der einen Seite, dann von Hand mit zwei Holzstäben gewendet, noch mal drei Minuten von der anderen Seite, und das Gleiche noch mal jeweils zwei Minuten. Dann werden sie von Hand gefüllt, von Hand mit flüssiger Mirabellenkonfitüre bestrichen (der Fachmann nennt das „Aprikotieren“), damit später die Glasur schön glänzt, bzw. der Puderzucker gut hält, danach von Hand glasiert oder mit Puderzucker bestäubt…
In der Nacht vom 30. auf den 31. Dezember werden in der Stader Backstube alljährlich 4.000 (!) Berliner gebacken. Das ist dann aber Chefsache. Heyderich möchte vermeiden, dass sich seine Angestellten in der Hektik verbrennen oder ein Berliner ungefüllt durchrutscht. Das wäre für den Kunden kein gutes Omen an Sylvester.
Nur beste Zutaten
Heyderich schwört auf regionale Produkte, er will die Umwelt nicht durch lange Transportwege belasten. Das Mehl bezieht er von der Mühle „Venti Amica“, einer historischen Holländer-Galerie-Windmühle in Hollern-Twielenfleth. Nur beim Sommelierbrot und bei der Flûte macht er eine Ausnahme. Das Mehl für die dünnen französischen Weißbrotstangen kommt aus Frankreich. Heyderich erklärt: „Manchmal braucht es ein ganz besonderes Mehl für einen ganz besonderen Geschmack.“
In der Konditorei wird ausschließlich Butter (aus der Molkerei Hasenfleet) verwendet, keine Margarine; auf die Torten kommt ausschließlich Marzipan, und kein Persipan und sogar die Marmeladen und Füllungen werden selbst gekocht. Aber es sind nicht nur die guten Zutaten, die den einzigartigen Geschmack der Stader Backwaren ausmachen, sondern gerade auch die Zutaten, die eben nicht hineinkommen: Industrielle Backmittel, Backmischungen oder vorgefertigte Teiglinge gibt es in dieser Bäckerei nicht.
Durch die Ausbildung zum Brot-Sommelier hat Heyderich noch mehr Verständnis für Brot entwickelt. Sein Vater backte noch „aus der Tüte“, verwendete also Industriebackmischungen. Das kommt für Heyderich nicht in Frage. Als der Konditormeister 1995 zusammen mit seiner Frau Monika den elterlichen Betrieb übernahm, stellte er ihn auf „Slow Baking“ um und verbannte alle künstlichen Backmittel aus seiner Backstube.
Qualität versus Expansion
Und die Zukunft? Stehen bei Heyderichs die Zeichen auf Wachstum? Nein, familiär solle es bleiben, zwei Filialen seien genug. Weitere Filialen, beispielsweise in Buxtehude oder anderswo, wären wieder mit unnötigen Transportwegen verbunden, das will Familie Heyderich nicht: „Unsere Philosophie ist es, Qualität und die Liebe zum Handwerk über Expansion zu stellen. Wir wollen klein bleiben.“ Und zugegeben, wenn man sich die Anzahl der Filialen anderer Bäckereien im Landkreis anschaut, kann man bei 200 oder gar 400 Einzelfilialen wohl kaum noch vom Bäckerhandwerk sprechen. Das geht schon eher in Richtung industrielle Brot-Produktion.
Und tatsächlich ist die Bäckerei Heyderich auch die einzige, die ihre Backstube noch im Stadtgebiet Stade betreibt. „Warme Backstuben“ gebe es nur noch wenige, dafür aber viele kalte. Will heißen, es gibt eine Backstube, in der heute nicht mehr gebacken wird, und vorne den Verkaufsraum, der zentral beliefert wird. Über der Tür hängt dennoch ein Bäckerei-Schild.
Gegen 06.30 Uhr verlassen wir mit einem halben Sommelierbrot unter dem Arm und einer prall gefüllten Brötchentüte die Bäckerei. Das Auto ist schnell erfüllt vom verführerischen Brot-Duft, wir freuen uns auf ein Frühstück und sind doch etwas müde. Das frühe Aufstehen liegt uns nicht im Blut. Umso mehr rückt es uns ins Bewusstsein, dass Nacht für Nacht Menschen in den Backstuben dafür sorgen, dass wir unser „täglich Brot“ auf dem Tisch haben. Mit dem Wissen um eine gute Teigführung und die Zeit, die ein gutes Brot benötigt, werden wir Brot in Zukunft noch bewusster genießen. Brot ist mehr als eine „Unterlage“ für eine Scheibe Wurst oder Käse, so viel haben wir gelernt.
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Vielen Dank für diesen sehr interessanten Bericht! Auch hier in bonn gibt es eine kleine Bäckerei die noch Bäckerei genannt werden kann! Dieses Riesenbrot würde ich gerne probieren. Aber Stade ist zu weit weg. Lieben gruss aus dem rheinland
Liebe Conni,
es freut mich, dass dir der Artikel gefallen hat! In der Tat, dieses „Riesenbrot“ (Sommelierbrot) ist einfach köstlich. Es hat eine perfekte, krosse Krume, ist innen herrlich saftig und sehr aromatisch!
Viele Grüße ins Rheinland!
Bettina